3. Hinter den Zahlen stehen menschliche Schicksale

Zur Bestellung der Felder, für die Arbeit auf dem Hof und später für die Ernte forderten die Landwirtsfrauen, deren Männer als Soldaten einberufen worden waren, im Frühjahr 1940 Ersatzarbeitskräfte an. Eine erhaltene Meldekarte weist aus, daß bereits am 1. März 1940 eine polnische Landarbeiterin einem Landwirtschaftsbetrieb in Steinheim zugewiesen wurde; weitere folgten im Juni.

Nach vereinzelten Maßnahmen Ende 1941 und 1942 begann dann im Winter 1942/43 der groß angelegte Einsatz ausländischer Zivilarbeiter in der Industrie; Lager wurden eingerichtet. Die Organisationsrichtlinien sahen für die großen Männerlager ausdrücklich die Einrichtung von Bordellen vor. Für Hanau wären dies das Lager Salisweg und das Dunlop-Lager, für Großauheim das Lager Bruchwiese und das VDM-Lager. Unterlagen und Hinweise darauf gibt es jedoch nicht.

Schwangerschaft und Geburt

Die ausländischen Zivilarbeiter und -arbeiterinnen konnten sich in ihrer kargen Freizeit treffen - wie bereits mehrfach dargestellt - es kam zu Bekanntschaften, Liebeleien, Schwangerschaften. Dann griff das Nazi-System ein: In den Ostarbeiter-Erlassen vom 20. Februar 1942 heißt es: „Fälle unerlaubten Geschlechtsverkehrs (mit Deutschen; der Verf.) ... sind durch staatspolizeiliche Maßnahmen zu ahnden und schwangere weibliche Arbeitskräfte möglichst nach dem Osten abzuschieben."  Ob in der Region Hanau so verfahren wurde, ist nicht feststellbar.

Es kann auch bezweifelt werden, ob diese Abschiebungsregelung der Ostarbeiter-Erlasse überhaupt angewandt wurde. Aus späteren Jahren gibt es Belege dafür, daß auf die Arbeitskräfte nicht verzichtet werden sollte. Die Schwangeren mußten bis kurz vor der Niederkunft und danach arbeiten. Die Eltern wurden „rassischen Überprüfungen" unterzogen, von der das Schicksal des Kindes abhing. Bereits in einem Erlaß des Reichsministers des Innern vom 13. März 1941 an die staatlichen Gesundheitsämter heißt es: „Bei den z. Zt. im Deutschen Reich eingesetzten ausländischen Arbeitskräften werden durch Eignungsprüfer des Rasse- und Siedlungsamtes SS im Einvernehmen mit dem RFSS - Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums - Untersuchungen durchgeführt. Zur Sicherstellung der hiermit zusammenhängenden Arbeiten sind die vom Rasse- und Siedlungshauptamt SS beauftragten Eignungsprüfer durch zeitweilige Zurverfügungstellung von Untersuchungsräumen, Röntgenapparaten usw. und, soweit möglich, auch durch Ärzte und Hilfspersonal zu unterstützen."

Aus Erlassen und Schriftwechseln, die in Gelnhausen erhalten sind und die in gleicher Weise von den Wiesbadener Dienststellen für Hanau ergingen, wird deutlich, wie damals vorgegangen wurde. Die Arbeitsämter meldeten die Namen schwangerer ausländischer Arbeiterinnen dem „Höheren SS- und Polizeiführer Rhein-Westmark. Der SS-Führer im Rasse- und Siedlungswesen" in Wiesbaden, dieser holte die formale Zustimmung der Reichsärztekammer zur Abtreibung ein. In Deutschland war Abtreibung bei strenger Strafe verboten.

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Ostländerinnen beim Gang über den Neustädter Markt mit Rathaus und Grimm- Denkmal, 1943 (Bildstelle Hanau).

Anfangs wurden von den Arbeitsämtern nur schwangere Ostarbeiterinnen gemeldet, die „eine Unterbrechung wünschen"; im Januar 1942 wies der SS-Führer im Rasse- und Siedlungswesen (abgekürzt: „Der RuS-Führer") in Wiesbaden den Präsidenten des Gauarbeitsamtes Hessen in Frankfurt an, daß „jede ausländische Arbeiterin ... von der bekannt wird, daß sie schwanger ist", zu melden sei. Weiter heißt es: „Im Übrigen sollen auch die bereits von Ausländerinnen geborenen Kinder daraufhin überprüft werden, ob sie als wünschenswert anzusehen sind." Im Mai 1944 erläutert der RuS- Führer: „Es besteht ein Interesse daran, daß von der Möglichkeit der Schwangerschaftsunterbrechung bei Ostarbeiterinnen weitgehend Gebrauch gemacht wird. Ebenso besteht aber auch ein Interesse daran, daß möglichst aller Nachwuchs, der für das deutsche Volk voraussichtlich von Wert sein würde, erhalten und entsprechend behandelt wird." Und weiter: „In Zukunft wird es nicht mehr möglich sein, für eine entsprechend frühe Begutachtung aller Schwangerschaftsfälle zu sorgen, wegen des immer gravierender werdenden Mangels an Fachkräften und der schwierigen Verkehrslage. Es wurde deshalb schon vor einiger Zeit mit dem Gauarbeitsamt vereinbart, daß Anträge auf Schwangerschaftsunterbrechung bei Ostarbeiterinnen und Polinnen ohne weiteres nach Genehmigung von Seiten der Ärztekammer durchzuführen sind.... Die Einwilligungserklärung der Frau braucht nicht vorgelegt werden." In einem zweiten Schreiben präzisiert er: „Die Zustimmung zur Schwangerschaftsunterbrechung bei Ostarbeiterinnen gilt in allen Fällen als gegeben, wo es sich bei dem Kindesvater um einen Mann nicht deutschen oder artverwandten Blutes handelt, ebenso bei Polinnen, wenn diese einen rassisch schlechten Eindruck machen. Nach wie vor ist eine Überprüfung jener Schwangerschaften notwendig, bei denen das Kind zur Austragung kommen soll."

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Ostländerinnen in der Innenstadt Hanau, 1943 (Bildstelle Hanau).

Die Frauen wurden zur Abtreibung in spezielle Lager gebracht: das „Hilfskrankenhaus Pfaffenwald" und das „Hilfskrankenhaus im Dulag Kelsterbach". Der Präsident des Gauarbeitsamtes teilte den Arbeitsämtern im Mai 1944 mit, sie sollten bei den Transporten nach Schwangerschaftsmonat unterscheiden: „Im Lager Pfaffenwald wird eine Unterbrechung durch den russischen Arzt aus medizinischen Gründen im viereinhalbten bis fünften Monat der Schwangerschaft nicht durchgeführt, dagegen wieder Unterbrechungsfälle im sechsten Monat unbedenklich. Im Hilfskrankenhaus Kelsterbach werden allgemein nur Unterbrechungsfälle bis zum 5. Monat der Schwangerschaft durchgeführt." Offenbar wegen zunehmender Transportprobleme wurden örtliche Ärzte eingeschaltet. Bereits im Januar 1944 teilt das Gauarbeitsamt den Arbeitsämtern mit: nun „entscheidet die Gutachterstelle und beauftragt einen Arzt mit der Durchführung".

In Hanau weist das Arbeitsamt noch am 2. März 1945 in einer amtlichen Bekanntmachung daraufhin, daß die Betriebe zur „Meldung ausländischer weiblicher Arbeitskräfte bei Schwangerschaft" verpflichtet sind. Sie würden „amtsärztlich untersucht und zur Entbindung in ein Hilfskrankenhaus der Arbeitseinsatzverwaltung eingewiesen." Die übliche Nazi-Lüge: Die Hilfskrankenhäuser zur Schwangerschaftsunterbrechung werden als Einrichtungen zur Entbindung dargestellt.

In der Liste der Suchstelle Hanau wird bei einem einzigen Arzt, der im Einwohnerbuch der Stadt Hanau 1938 aufgeführt ist (als Frauenarzt), eine 20-jährige Russin als Arbeitskraft genannt: vom 15. Dezember 1944 bis 12. April 1945. Als Hilfe und Dolmetscherin für Abtreibungen? Ein anderer Arzt in Hanau, der im Einwohnerbuch von 1938 als Praktischer Arzt genannt ist, hatte nach dem Krieg das Praxisschild: „Praktischer Arzt und Geburtshelfer", was einen Zeitzeugen zu der Bemerkung veranlaßte: „früher war er das Gegenteil, nämlich der Abtreibungsarzt der Russinnen". Diese Fragen sind leider nicht weiter verifizierbar.

Die Schwangerschaftsunterbrechungen in Pfaffenwald und Kelsterbach waren offenbar nicht mehr systematisch durchzuführen. So beschwerte sich die Kreisverwaltung Gelnhausen der DAF im Februar 1945 bei der DAF-Gauverwaltung, daß eine Ostarbeiterin, die im Januar 1945 „nach Kelsterbach zur Entbindung geschickt" worden war, von dort zurückgeschickt wurde, weil „keine Kohlen vorhanden" waren; jetzt sei sie im 7. Monat. Es war also offenbar eine Abtreibung im 6. Monat vorgesehen gewesen. Für künftige Fälle bittet die DAF-Gelnhausen: „veranlassen zu wollen, daß die Schwangerschaftsunterbrechungen hier im Krankenhaus stattfinden." Ob es dazu kam, ist nicht feststellbar.

Auch für die Krankenhäuser in Hanau bleibt die Lage unklar. Für das Ley- Krankenhaus ist eine „Ostarbeiter-Baracke" nachgewiesen - eine gesonderte Krankenabteilung, weil Ostarbeiter/-innen nicht mit den deutschen „Herrenmenschen" untergebracht werden sollten (mehr dazu im Kapitel Krankenhaus). Im Register des Standesamts Hanau sind dort Geburten beurkundet. Ob dort auch Abtreibungen vorgenommen wurden, ist nicht bekannt; Zeitzeugen geben vor, nichts zu wissen. Polnische Wissenschaftler haben sich um diese Fragen besonders bemüht, bestätigen für das Ley-Krankenhaus und das Jakob-Sprenger-Krankenhaus im Grunde nur die Geburten: „Die Einrichtung separater Entbindungsabteilungen für Ostarbeiterinnen (vermutlich Baracken) ist dem Schreiben des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS - SD-Abschnitt Ffm vom 8. Juni 1943 zu entnehmen." Dabei befinden wir uns auf unsicherem Boden: Das Geburtenbuch des Standesamtes Hanau weist Geburten im Ley-Krankenhaus aus, nicht aber im Jakob-Sprenger-Krankenhaus; das spricht dafür, daß dort keine Entbindungsstation bestand. Für das Ley-Krankenhaus gibt es einen Hinweis in der Liste der Suchstelle: Dort starb am 14. Mai 1943 die 21-jährige Russin Wera W., die in Wolfgang gearbeitet hatte. Als Todesursache ist eingetragen: „Abortus". Ob die Abtreibung im Krankenhaus vorgenommen wurde oder ob sie woanders von einem Arzt versucht wurde und die Frau erst dann ins Krankenhaus kam, bleibCatching_Coinst allerdings offen.