2.2. Die Polen-Erlasse

Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 wurde das polnische Staatsgebiet am 1. Oktober aufgeteilt: Ostpolen wurde der Sowjetunion einverleibt, die nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag an Polen abgetretenen Gebiete (Posen und Westpreußen) und das Wartheland wurden dem Deutschen Reich zugerechnet, das übrige Polen als „Generalgouvernement" unter deutsche Verwaltung mit Sitz in Krakau gestellt. In der Folgezeit kamen polnische Arbeitskräfte in größerer Zahl nach Deutschland. Die deutschen Behörden versuchten anfangs, die „Aussiedlung der Polen aus den Ostgebieten" zu bremsen, später aber begannen systematische Anwerbungen, vorrangig für die Landwirtschaft.

Polnische Landarbeiter waren schon vor dem Krieg in Deutschland, insbesondere in den östlichen Teilen des Landes. Als nun immer mehr polnische Arbeitskräfte eingesetzt wurden, versuchten die Nationalsozialisten „den Bauern zu erklären, daß die Beschäftigung eines Polen vor und nach Kriegsbeginn zwei grundverschiedene Dinge" seien. Dies führte am 8. März 1940 zu einem umfangreichen Erlaßwerk zur Regelung der Arbeits- und Lebensbedingungen der polnischen Zivilarbeiter, den „Polen-Erlassen". Sie waren der „Auftakt zu einem immer geschlossener werdenden, sich nach Nationalitäten differenzierten Sonderrecht für ausländische Arbeiter und die Grundlage eines umfassenden Systems der Beaufsichtigung und Repression der polnischen Arbeiter", eine „Kodifizierung des eigenen Herrenmenschenstatus ihnen gegenüber". Nun mußten polnische Arbeitskräfte an ihrer Kleidung am Oberkörper sichtbar ein großes „P" als Polen-Abzeichen tragen - die erste öffentliche Kennzeichnung von Menschen im Nazi-Reich, nach deren Muster im September 1941 der „Judenstern" eingeführt wurde.

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Ein „Ostländerpärchen" in der Bangertstraße, 25. August 1943 (Bildstelle Hanau).

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Ostländerinnen nach Feierabend, Matra-Werke, April 1943 (Bildstelle Hanau).

Offenbar gab es Unklarheiten, wer denn alles unter die neuen Bestimmungen fiel, denn am 9. Juli 1940 erläuterte der Hanauer Landrat in einem Rundschreiben an alle Bürgermeister und Polizeibeamten des Kreises „mehrfacher Anfragen wegen", daß die „Verordnung über die Kenntlichmachung" nur für Arbeiter „polnischen Volkstums, also nur für die eigentlichen Nationalpolen" gelte, nicht für „Volksdeutsche" und nicht für „deutsche Volkszugehörige" und „ebenfalls nicht für die polnischen Zivilarbeiter ukrainischen Volkstums".  Die bevorzugte Behandlung der Ukrainer aus Polen wurde auch durch einen mit roter Farbe aufgedruckten Vermerk in ihren Ausweispapieren sichergestellt: „Ukrainer und Arier. Ausgestellt im Einvernehmen mit dem Arbeitsamt Lemberg. Datum. Ukrainisches Komitee für den Distrikt Galizien." Anfang Januar 1942 teilte die Staatspolizeistelle Kassel der Geheimen Staatspolizei den Landräten mit, daß der Vermerk geändert werde: „Die Worte ,und Arier' fallen weg". Alte Dokumente mit dem roten Aufdruck aus Galizien galten als „Volkstumsbescheinigung" der Ukrainer und ersparten ihnen das Tragen des „P" und die weiteren Einschränkungen.

Die Erlasse bestimmten für die polnischen Zivilarbeiter: ein nächtliches Ausgehverbot, ein Verbot der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel außerhalb des Arbeitsortes, ein Verbot des Besuchs deutscher Veranstaltungen kultureller, kirchlicher und geselliger Art sowie ein Verbot des Besuchs von Gaststätten bzw. die Einrichtung gesonderter Lokale oder Öffnungszeiten. In einem Merkblatt an die polnischen Arbeiter hieß es: „Wer lässig arbeitet, die Arbeit niederlegt, andere Arbeiter aufhetzt, die Arbeitsstätte eigenmächtig verläßt usw., erhält Zwangsarbeit im Konzentrationslager... Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann geschlechtlich verkehrt, oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft".

Die Bestimmungen wurden in der Folgezeit weiter verschärft: der Reichsarbeitsminister strich im März 1941 für Polen den Anspruch auf Urlaub und sämtliche Lohnzuschläge, der Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten untersagte im Juli 1941 generell die Teilnahme von Polen an Gottesdiensten der örtlichen Pfarrgemeinden.634 Ab 1943 aber wurden in den Nazi-Gremien dann Erleichterungen für Polen und Ostarbeiter beraten und teilweise umgesetzt, um die Arbeitsleistung zu steigern.

Offenbar versuchten infolge dieser Restriktionen polnische Arbeiterinnen und Arbeiter, die freiwillig nach Deutschland gekommen waren, in ihre Heimat zurückzukehren, denn die Nazi-Administration erließ bereits im Frühjahr 1940 detaillierte Verhaltensanweisungen an die Bürgermeister und kommunalen Polizeibeamten: „Wird der Arbeitsplatz aus persönlichen Gründen, aus Arbeitsunlust usw. verlassen, muß insbesondere auch die Angabe des letzten Wohnsitzes im Generalgouvernement oder in den ins Reich eingegliederten Ostgebieten und des Distrikts bzw. Reg.Bezirks, in dem der Wohnsitz liegt, enthalten sein. ... In allen Fällen der Arbeitsniederlegung durch einen Polen wird seine Rückführung an den alten Arbeitsplatz durchgesetzt." Schon drei Wochen später wiederholte und präzisierte der Landrat: „Verlassen nationalpolnische Zivilarbeiter unerlaubt ihre Arbeitsstelle, so sind sie nach Möglichkeit im Wege des Gefangenensammeltransports an ihre alte Arbeitsstelle zurückzubringen. Die hierdurch entstehenden Kosten sind den Polen vom Arbeitslohn abzuziehen."

Im Juli 1940 erfolgte die „Freilassung polnischer Kriegsgefangener" - sie wurden zwangsweise zur Arbeit in Deutschland eingeteilt und an der Rückkehr in die Heimat gehindert. Im „Schnellbrief" des „Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei" vom 10. Juli 1940, der Bezug auf den Erlaß vom 8. März nimmt, heißt es: „Die Freilassungen erfolgen ausschließlich unter der Bedingung, daß jeder einzelne Kriegsgefangene sich schriftlich verpflichtet, bis zur endgültigen Entlassung durch das Arbeitsamt in die Heimat als Zivilarbeiter jede ihm vom Arbeitsamt zugewiesene Arbeit" zu übernehmen und diese „ohne Genehmigung des Arbeitsamtes oder der Polizei nicht zu verlassen". Mit dieser „Freilassung" schieden die Kriegsgefangenen „aus dem Gewahrsam der Wehr macht und werden Zivilarbeiter", sie „werden von dem Arbeitsamt mit der Arbeitskarte, von dem Stalag mit den vorgeschriebenen Kennzeichen versehen".

Inzwischen waren die Polen-Erlasse auch auf den unteren Verwaltungsebenen angekommen. Der Regierungspräsident in Kassel erließ am 10. April 1940 eine „Polizeiverordnung über Maßnahmen aus Anlaß des Einsatzes von Zivilarbeitern und  -arbeiterinnen polnischen Volkstums". Zur  Veröffentlichung im Anzeigenteil erschien parallel auf der Lokalseite des Hanauer Anzeiger die Ermahnung „Ein Wort zum Einsatz polnischer Arbeitskräfte / Klarer Abstand zwischen deutsch und polnisch", in der vor der „Gefahr der Unterwanderung" gewarnt und die Nazi-Parole vom „deutschen Blut" verbreitet wurde. „Zwischen polnischem Blut und deutschem Blut darf es keine Verschmelzung geben."

Die Stigmatisierung der polnischen Arbeitskräfte durch das Kennzeichen „P" wurde offenbar nicht durchgängig vorgenommen. Als der Regierungspräsident am 11. Juni 1942 rügte  „… angebrachte ,P' sehr oft nur lose angeheftet getragen und es entfernt, wenn es ihnen nachteilig erschien" und daran erinnerte  „… auf der rechten Brustseite jedes Kleidungsstückes das mit  ihrer jeweiligen Kleidung fest verbundene vorgeschriebene ,P' stets sichtbar zu tragen", verbreitete der Landrat die Abschrift an die Bürgermeister mit der Einleitung „Bei dieser Gelegenheit weise ich erneut auf meine Verfugungen vom 24.5.1940 - 10. 6.1940 - 7.10.1940 - 12.11.1940 - 8.2.1941 - 13.5.1941 und vom 14.7.1941 hin. "Polizeiverordnung, 1940

Wenn es Durchsetzungsprobleme der Polen Erlasse gab, so ist davon in der Hanauer Tagespresse keine Spur zu finden - anders als bei den bereits beschriebenen Regelungen für Kriegsgefangene, zu denen es eine breite Berichterstattung gab (siehe oben) Im Jahr 1941 sind es nur vier Meldungen. Einmal heißt es, daß „ein Polenmädchen" die Mutter eines Jungen alarmierte, der in den Wilhelmsbader Teich gefallen war (4. April 1941), dann, daß „ein diebischer Polenjüngling", der „vor Monaten ohne Erlaubnis ins Reich eingewandert war und zuletzt bei einem Gärtner in Ostheim" arbeitete und diesen bestahl, zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde (10. Juli 1941), der dritte Bericht „Der Mann ohne ,P'" schildert eine Diebestour in der „Hanauer Gegend" und das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt (5. September 1941), der vierte Bericht „Beim Todesfall ausländischer Arbeiter" (11. Oktober 1941) ist eine Handlungsanweisung und beschreibt den Meldeweg vom Betrieb zum Arbeitsamt, von diesem an die „ausländische Dienststelle, welche die Nachricht an die Angehörigen weiterleitet". Zeitungsberichte über Verstoße gegen die Polen-Erlasse gab es in Hanau nicht. Auch in 1942 und 1943 gab es nur Meldungen, in denen polnische Zivilarbeiter als Kriminelle beschrieben wurden „Pole als Milchfälscher" (8. Januar 1942) zu Gefängnis verurteilt, weil er wegen eines umgestoßenen Melkeimers die erforderliche Milchmenge durch Zusatz von Wasser vorgetäuscht hatte, „Pole mordete eine Frau" (7. November 1942) über eine Beziehungstat im Raum Karlsruhe, „Mord an einem Gendarmeriebeamten / Der polnische Täter geflüchtet" (27. November 1942) über eine Tat im Kreis Frankenberg mit Erbeutung der Dienstpistole. „Ein gewalttätiger Pole" (30. April 1943) über das Todesurteil des Sondergerichts Würzburg gegen einen Polen wegen versuchter Notzucht im Raum Obernburg.

Es gab in Hanau auch keinen Pressebericht über die Erhängung eines polnischen Landarbeiters aus Oberdorfelden am 25. Februar 1942, der angeblich einer Bauersfrau „zu nahe getreten" war - was immer das heißen soll. Ergänzend zu den Polen-Erlassen hatte das Reichssicherheitshauptamt am 4. September 1940 verfügt, daß „in allen Fallen, in denen polnische  Zivilarbeiter und -arbeiterinnen bzw. die als Zivilarbeiter weiter verwendeten ehemaligen polnischen Kriegsgefangenen strafbare Handlungen, insbesondere auf sittlichem Gebiet begangen haben", sei dies „nicht der Staatsanwaltschaft, sondern sofort der zuständigen Staatspolizeistelle" über den Landrat zu melden. Es gab keine Gerichtsverfahren, sondern allein Entscheidungen der Gestapo.

Die  Exekution  des  polnischen  Landarbeiters Michael Cislo ist in mehreren Quellen belegt. Zwischen Wachenbuchen und Niederdorfelden auf dem Hinterberg war ein Holzgalgen aufgebaut worden, den ein Zimmermann aus Wachenbuchen auf Veranlassung des Wachenbuchener Nazi-Bürgermeisters geliefert hatte. Alle polnischen Zivilarbeiter des Kreises mußten zur Hinrichtung kommen.

Cislo, geboren 28. November 1918, also 23 Jahre alt, war von Frau J. auf Betreiben des Nazi-Ortsgruppenleiters angezeigt worden. Ein Gendarmerie-Oberleutnant beschrieb nach dem Krieg die Exekution: „Meines Wissens ist das Verfahren gegen den Polen von der damaligen Stapo und SD-Dienst in die Wege geleitet worden. Das Urteil des Aufhängens ist von Reichsleiter Himmler ausgesprochen und wurde hier im Kreis in der Gemarkung Niederdorfelden durch Aufhängen vollstreckt. Zu dieser Exekution wurden befehlsgemäß sämtliche Polen des Landkreises Hanau bestellt, die mit zusehen sollten. Das Aufhängen selbst haben die Polen nicht mit angesehen, vielmehr wurden sie unweit der Richtstätte hinter einer Höhe gehalten. Der verurteilte Pole wurde an dem betreffenden Tage von der Stapo Kassel oder SD-Dienst Kassel, genau kann ich das nicht sagen, mit einem Kraftwagen zur Richtstätte gebracht. Dort wurde ihm das Urteil durch einen Stapo-Beamten vorgelesen, worauf er 20 Minuten Gnadenfrist erhielt, um etliche Wünsche vorzubringen. Seine Wünsche bestanden lediglich in der Forderung, daß das Urteil sofort vollstreckt werden möge, was indessen abgelehnt wurde. Nach Ablauf der Frist wurde er durch zwei Polen aufgehängt. Der Delinquent mußte sich auf einen bereitgestellten Tisch stellen und zwei von der Stapo mitgebrachte Polen haben ihm die Schlinge um den Hals gelegt. Dann wurde der Tisch zur Seite gestellt, so daß der Körper zum freien Hängen kam. Der Tod trat alsbald ein. Der tote Körper wurde dann in einem mitgebrachten Sarg vom Beerdigungsinstitut B. weggebracht. Noch während der Pole hing, mußten sämtliche vom Landkreis mitgebrachten Polen an der Leiche vorbeigehen, um diesen in aufgehängtem Zustande zu sehen, hierbei ist es vorgekommen, daß einzelne Polen, die nicht gut hinsahen, von Bewachungskräften dazu gezwungen wurden, jedoch betone ich, daß dies nur ganz vereinzelt geschehen ist. Die mitgeführten Kinder und ganz jugendlichen Leute habe ich auf eigene Verantwortung von diesem Ansehen befreit, indem ich sie aus dem Zuge herausgenommen habe. Von den Behörden waren meines Erachtens anwesend: Die Beamten des SD-Dienstes und der Stapo, der Landrat ganz bestimmt und ein großer Teil der Bürgermeister des Landkreises. Geleitet wurde die Gesamtexekution durch einen Beamten des SD-Dienstes oder Stapo-Dienstes Kassel."

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Ostländerinnen in der Innenstadt, Oktober 1943 (Bildstelle Hanau).