Vernichtung einer Stadt: Hanaus Zerstörung im Luftkrieg
Manfred Rossa
Hanau im Würgegriff des Luftkrieges. Eine historische gewachsene Kleinstadt wird vernichtet

Das Stadtarchiv Hanau hat Manfred Rossa eine Dokumentation überlassen, die in zwei Artikeln in der Frankfurter Neuen Presse 1962 erschien.

Die ersten Bomben trafen Bruchköbel

Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Städten, zum Beispiel der früh und hart getroffenen Stadt Mainz, die schon Mitte August und Anfang Dezember 1942 schwerste Schäden durch Luftangriffe zu verzeichnen hat, sind Stadt und Landkreis Hanau bis zum 6. Januar 1945 dahin nur gelegentlich von Bomben getroffen worden. Die ersten Bomben in der Gegend um Hanau, die möglicherweise dem Flugplatz in Langendiebach gelten, fallen in der Nacht zum 11. August 1940 auf Bruchköbel. Bruchköbel gehört zu den Orten des Kreises Hanau, die in den Morgenstunden des 6. Mai 1941 das Ziel feindlicher Bombenabwürfe sind.

Innerhalb des Stadtgebietes gehen die ersten Bomben in der Nacht zum 11. Mai 1941 nieder. Weitere Bombenschäden geringeren Ausmaßes entstehen am 24. Juli 1941, in der Nacht zum 2. April 1942 in der Hauptbahnhofstraße und am Morgen des 9. September 1942. Zwar wird die Bevölkerung seit der Verstärkung der alliierten Bomberoffensive gegen westdeutsche Städte im März 1942 immer häufiger in die Luftschutzkeller gejagt, weitere Bomben fallen jedoch vorerst nicht.

Die Antwort der Alliierten auf die Erklärung des „totalen Krieges" im Frühjahr 1943 ist, dass sie ihre Luftangriffe auf Westdeutschland weiter verstärken, gegen die die NS-Machthaber nur großsprecherische Phrasen ins Felde führen, aber keine Gegenwaffe besitzen. Auch in Hanau muss man jetzt mit groß angelegten Angriffen rechnen. Da es keine Bunker gibt, wird, ausgelöst durch einen „Führerbefehl" vom 5. Mai 1943, damit begonnen, gedeckte Deckungsgräben für die Zivilbevölkerung anzulegen, was bei der geringen Standfestigkeit des Hanauer Sandbodens mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist.

In der Stadt nimmt das Leben in gewohnter Weise seinen Fortgang; jedenfalls tut man so. Die Chronik berichtet von einer überaus erfolgreichen Theaterspielzeit 1942/43, in der das Personal des Stadttheaters in Hanau selbst und in den benachbarten Gastspielorten 472 Vorstellungen gibt, darunter 187 Operetten- und 140 Opernaufführungen, jedoch nur 78 Schauspiele.

Man erkennt deutlich, auch das Theater hat seine Aufgabe im Rahmen des „totalen Krieges". Sie besteht darin, die Menschen zu unterhalten und so abzulenken, dass sie möglichst wenig über das furchtbare Schicksal nachdenken, dem ihr Vaterland entgegen treibt. Doch dies alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Hanau wie allenthalben die Bevölkerung hungert und bitterste Not leidet. Die Zeit der schnellen Erfolge ist vorbei. Man muss sich für einen neuen Kriegswinter rüsten. Zur Beschleunigung des Arbeitsfortganges an den Splittergräben werden im August 1943 600 Soldaten abgestellt. Die Gräben sollen mit elektrischem Licht und Heizkörpern ausgestattet werden.

Am 21. August ergeht der Befehl, dass jedermann ständig einen Ausweis mit Lichtbild mit sich zu führen hat. Ob man damals schon in vollem Umfang ahnt, welche furchtbaren Erwartungen sich hinter diesem Befehl verbergen?

Die Evakuierten aus dem Ruhrgebiet, die im Mai und Juni 1943 in Hanau eintreffen, aber ins Hinterland weitergeleitet werden, weil die Stadt selbst als luftgefährdet gilt, wissen das schon besser, denn sie haben inzwischen erfahren müssen, wie unbarmherzig die Alliierten mit ihren Luftangriffen zuschlagen, die Industrieanlagen und Wohnviertel gleichermaßen treffen.

Ein Sarglager im Wilhelmsbader Theater

Großangriffe auf Frankfurt am 4. Oktober 1943 - in den Bereichen Hanauer Landstraße, Ostbahnhof, Großmarkthalle, Zoo, Zeil, Römer, aber auch in Fechenheim und Bergen-Enkheim entstehen gewaltige Schäden - sowie auf Kassel am 22. des gleichen Monats machen deutlich, was jederzeit das Schicksal Hanaus sein kann. Das Stadttheater sieht sich wegen der ständigen Luftalarme gezwungen, ab 29. Oktober 1943 seine Vorstellungen schon um 18.30 Uhr zu beginnen, nicht ahnend, dass dies seine letzte Spielzeit sein wird. Das Wilhelmsbader Theater erlebt den makabersten Abschnitt seiner Geschichte. Hier wird ein Lager von 200 Särgen eingerichtet. Während sich die Luftangriffe auf Frankfurt, Offenbach und Darmstadt häufen und Brandbomben, die am 26. November 1943 um 2 Uhr nachts über Hanaus Umgebung abgeworfen werden und in den Mittagsstunden des 4. Februar 1944 auch weitere Orte des Landkreises Hanau empfindlich treffen, liest man in der Hanauer Chronik noch Ende April 1944: „Die Luftschutz-Vorschriften werden in keiner Weise beachtet, nur weil in Hanau noch nichts passiert ist. Dieser Leichtsinn muss unterbunden werden." Das geschieht, noch ehe das Jahr zu Ende geht.

Dröhnendes Verhängnis

Ein schwerer Luftangriff am 25. September 1944, bei dem zahlreiche Menschenleben zu beklagen sind, läutet für die Stadt Hanau den letzten Kriegswinter ein. Die gehetzte Bevölkerung kommt nicht mehr zur Ruhe.

Die Alliierten setzen neben ihren oft aus mehreren hundert Flugzeugen bestehenden Bombergeschwadern in zunehmendem Maße ihre gefürchteten Jagdbomber - jedermann bekannt unter dem Namen „Jabos" - ein. Die angloamerikanische Luftüberlegenheit wird so groß, dass kaum eine Stunde am Tag vergeht, in der nicht die Luft vom Geräusch feindlicher Flugzeuge erdröhnt. Die NS-Propaganda spricht dessen ungeachtet unentwegt von in der Entwicklung begriffenen Wunderwaffen, mit denen der „Führer" doch noch den Endsieg erringen werde.

Der Volkssturm wird am 18. Oktober 1944 aufgeboten. Die Panzerfaust in der Hand von 15-Jährigen und das Gewehr in der Hand der 65-Jährigen sollen den an Material um ein Vielfaches überlegenen Gegner aufhalten. Das Reichsgebiet und damit auch Hanau wird zur Heimatfront erklärt.

Luftminen und Bomben im Dezember 1944 und im Januar 1945

Am Abend des 7. Dezember 1944 wird das Stadtgebiet bei „Voralarm" von vier Luftminen getroffen. Es entsteht erheblicher Schaden. Tagesangriffe folgen in den Mittagsstunden des 11. und 12. Dezember 1944. Schwer angeschlagen werden das Industriegebiet und der Bereich des Neustädter Markts.

Am 13. Dezember zerschmettert eine Bombe den Wasserbehälter des Wasserwerkes Wilhelmsbad. Neue Luftminen fallen am 17. Dezember. Ein Sprengbombenangriff in den frühen Abendstunden des 1. Januar

1944 verursacht im Westen der Stadt Schäden, wobei zum Glück sehr viele der abgeworfenen Bomben in den Main fallen. Am 5. Januar 1945 richtet sich ein großer Tagesangriff abermals gegen den Ostteil der Stadt, insbesondere gegen die Kasernen und die Industrieanlagen. Die Gummischuhfabrik Dunlop und der Hauptbahnhof werden vernichtet.

Der 6. Januar 1945: Erster Schritt zur Vernichtung Hanaus

Alles bisher Geschehene wird übertroffen durch den ersten Großangriff auf Hanau am Abend des folgenden Tages: 22 Luftminen, 5.000 Sprengbomben aller Kaliber, 3.000 Flüssigkeitsbrandbomben und 120.000 Stabbrandbomben werden an diesem Tag angeblich abgeworfen. Die Zahl der Flugzeuge wird mit 500 bis 700 angegeben. 90 Tote sind zu beklagen. Niedergewalzt wird ein breiter Streifen quer durch die Altstadt.

In der bereits 1597 gegründeten Neustadt werden fast alle Häuser mit Renaissance-Giebel zerstört. Über die Schäden in der Neustadt berichtet ein Hanauer Vater in einem Feldpostbrief an seinen Sohn: „Alles in allem dürften rund 40% zerstört, vielleicht weitere 30% z.Z. unbewohnbar, aber noch herzurichten sein. Man spricht von 22.000 Obdachlosen, weg [geflohen] sind sicherlich mehr Menschen. Hoffentlich kommen sie nicht nochmals [zurück]!"

Andere Orte des Landkreises, vor allem Mittelbuchen, werden am 8. Januar getroffen.

Hat die Stadt Hanau damit dem Moloch Krieg ihren Tribut gezollt? Das ist die bange Frage aller, sowohl jener, die obdachlos geworden sind und im Landkreis Zuflucht gesucht haben, als auch derer, die noch in den Ruinen hausen.

Mutige, die trotz strengsten Verbotes den englischen Nachrichtendienst hören und dort die Meldung vernehmen, die Hanauer Industrie sei restlos zerstört, klammern sich an diese Meldung und schöpfen Hoffnung, dass der Stadt weitere Angriffe erspart bleiben. Ist sie auch schwer getroffen, so steht doch noch eine Menge historischer, über viele Jahrhunderte gewachsener Bausubstanz. Insbesondere stehen noch, wenngleich mehr oder weniger „durchgeblasen", sämtliche Kirchen, die beiden Rathäuser, die beiden großen Krankenhäuser, ebenso die Hanauer Schulen. Werden sie erhalten bleiben?

Das Ende der historischen Stadt bringt der 19. März 1945

Die Hoffnung ist vergeblich. Es geht der britischen Royal Air Force schon seit 1942 nicht mehr um die Zerstörung von Industrieanlagen, sondern um die Beseitigung ganzer Städte. Der Brandangriff ist inzwischen zur Perfektion eingeübt worden. Die Abmischung von Sprengbomben, Minen und Stabbrandbomben erzeugt eine Feuersbrunst, die alles zerstört.

Der Tod kommt ganz früh am Morgen:

Der Wetterdienst hat für Montag, den 19. März 1945, einen sonnigen Tag angekündigt. Was aber kümmert das jene etwa 15.000 Hanauer, die nach den furchtbaren Zerstörungen im vorausgegangenen Januar noch in der Stadt zurückgeblieben sind?

Sie haben andere Sorgen, denn schon ist bei günstigem Wind der Geschützdonner der sich von Tag zu Tag weiter nach Osten verlagernden Front im Westen zu hören. Ihre bange und immer wieder gestellte Frage ist: Werden sie - die alliierten Bombergeschwader - noch einmal wiederkommen, oder wird die Stadt von weiteren Angriffen verschont bleiben? Zwischen Hoffen und Bangen hält der junge Frühling seinen Einzug. Gewissheit über das Schicksal der Stadt Hanau bringen die frühen Morgenstunden des 19. März 1945. Etwa um 4.20 Uhr entleeren Hunderte von Flugzeugen, ohne dass Alarm gegeben worden ist - niemand kennt den Grund -, ihre Bombenschächte über Hanau. Über einem genau abgesteckten Angriffsziel, dessen Zentrum die Innenstadt bildet, werfen die Flugzeuge ihre Tod und Verderben bringende Last ab, und innerhalb von 20 Minuten wird das, was die Januar-Angriffe in der Innenstadt stehen gelassen hatten, so gründlich niedergewalzt, dass hier keine Rettung mehr möglich ist. Das gesamte Stadtzentrum gleicht einer einzigen Fackel. Die Brände greifen, durch den aufkommenden Feuersturm angefacht, in Windeseile um sich und verzehren alles, was sich ihnen entgegenstellt. Erschütternd ist das Bild der gehetzten Menschen, als sie, vielfach noch in Nachtkleidern, mit den Resten ihrer Habseligkeiten aus Kellerlöchern und Trümmerbergen heraus gekrochen kommen. Zum Glück ist die Zahl der Toten nicht so groß, wie man nach dem Ausmaß und dem Umfang der Zerstörungen zunächst glaubt annehmen zu müssen. Etwa 2.000 Todesopfer sind zu beklagen. Viele Bürger verdanken nur dem Umstand ihr Leben, dass sie schon nach den Januar-Angriffen die Stadt verlassen und in den Gemeinden des Landkreises Zuflucht gesucht haben.

Die Löschfahrzeuge können die Stadtmitte nicht erreichen, da diese wegen Bombentrichtern, wegen zerschlagener Bäume, umgestürzter Häuser auf direktem Wege nicht zu erreichen ist. Die sauerstoffreiche Nachtluft entfacht zudem immer wieder neue Brände aus den Ruinen.

Noch tagelang stehen Rauchschwaden über der Stätte des Grauens. Das, was einst die Bürger in Jahrhunderten geschaffen hatten, ist über Nacht in ein unübersehbares Trümmerfeld verwandelt worden, und es ist ungewiss, was daraus werden wird.

Aus den Ruinen ist eine neue Stadt aufgebaut worden. Die neuen, großen öffentlichen Gebäude und Versorgungseinrichtungen werden meist am 19. März, Hanaus Schicksalstag, ihrer Bestimmung zu übergeben, weil damit trotz der berechtigten Freude über die Wiederaufbauleistung gleichzeitig an die Zerstörung der Stadt erinnert wird.

Erst seit 1962 gibt es ein Erinnerungsdenkmal

Auf dem erst 1962 eingeweihten Ehrenfeld des Hauptfriedhofes erinnern mehrere Kreuzgruppen aus Basaltlava-Tuffgestein an die Opfer des 2. Weltkrieges. Ein liegender Quader trägt die Beschriftung:

    Unsere Liebe findet Euch,
    wo immer Euer Grab sein möge,
    in Ost und West,
    in Süd und Nord,
    auf dem Grunde der Meere - überall.

Die Anlage ist alljährlich Austragungsort der zentralen Feierstunde am Volkstrauertag.

Dem Ehrenfeld des Hauptfriedhofes ist ein Eingangshof vorgelagert, der dem besonderen Gedenken an den 19. März 1945 gewidmet ist. Auf Bronzeplatten sind die Namen der Opfer des verheerenden Bombenangriffs dieses Tages festgehalten, an dem Hanau in Schutt und Asche sank. Den Ehrentafeln ist folgende Inschrift vorangestellt: In den Jahren 1939 bis 1945 starben Soldaten und Bürger. Besonders schmerzvoll war die Nacht des 19. März 1945 für  unsere Stadt.