Die Legende vom Bonifatiuskreuz
Heinrich Riebeling

„Im Frankfurter Historischen Museum wird ein altersgraues Steinkreuz aufbewahrt, das dortselbst und an einigen Literaturstellen jüngster Zeit den Namen ,Bonifatiuskreuz' trägt. Es ist das einzige noch erhaltene Steinkreuz aus dem engeren Frankfurter Raum.

Zu dieser Namensgebung ist es wohl gekommen, weil der überlieferte Standort des Steinkreuzes zwischen Eschborn und Sossenheim an der ,Elisabethenstraße' war, jener Altstraße, auf der im Juli 754 die sterblichen Überreste des in Friesland erschlagenen Missionars Winfried, genannt Bonifatius, des ,Apostels der Deutschen', von Mainz nach Fulda geleitet worden sind. An der Stelle des ehemaligen Steinkreuz-Standorts soll der Leichenzug eine der vielen Rasten abgehalten haben, die auf der damals so beschwerlichen Reise notwendig waren. Zur immerwährenden Erinnerung an diesen Rastplatz habe man das steinerne Kreuz aufgerichtet. Die eingeritzten Zeichnungen im Kreuzungsfeld werden als merowingische Buchstaben gedeutet: H B Q. Übersetzt soll es lauten: Hie Bonifatius quievit, zu deutsch: Hier ruhte Bonifatius.

Bei Durchsicht verschiedener Veröffentlichungen kann man feststellen, daß diese Hypothese über das sogenannte Bonifatituskreuz von namhaften Autoren ohne weitere Nachprüfungen übernommen und zitiert wurde; sie erhielt in der Folge wissenschaftliche Verbrämung bis zum Status eines Fixums. Dies führte so weit, daß im Fuldaer Dom sogar eine Nachbildung des Steinkreuzes in der Nachbarschaft der Ruhestätte des Heiligen aufgestellt wurde.

Im Zusammenhang mit Fundort und Deutung der Ritzzeichen seien einige Fragen aufgeworfen:

1. Warum soll nur an diesem Platz einer Mittagsrast des Leichenzuges ein steinernes Erinnerungsmal in Form eines solchen Kreuzes aufgestellt worden sein?

2. Warum gibt es vor allem im Fuldaer Land, das als eines der reichsten und verlustärmsten Steinkreuzgebiete Hessens bekannt ist und zudem Bonifatius' Wahlheimat war, kein einziges ,Bonifatiuskreuz'?

3. Warum standen neben dem Steinkreuz noch zwei weitere andersartige Flurdenkmäler?

4. Warum stehen die als merowingische Buchstaben gedeuteten Ritzzeichnungen im Schriftbild nicht geordnet neben- oder auch übereinander, da es die Platzverhältnisse doch zulassen? Selbst bei nur empirischer Betrachtung der Problematik sollten die Antworten unschwer zu finden sein.

Auf dem langen Landweg von Hochheim am Main bis Fulda sind an keiner anderen Stelle durch Flurnamen oder Überlieferungen, Grenzbeschreibungen oder Salbücher steinerne Kreuze, die an den Trauerkondukt des Bonifatius erinnern, bekanntgeworden. Ein früh ausgegangenes Steinkreuz im Wald oberhalb von Rodenbach am angenommenen Weg des Leichenzuges ist noch kein Beweis dafür, daß es dereinst zum Gedächtnis Bonifatius' aufgestellt worden war; geschichtliche Belege stehen auch hierfür aus.

Daß zur Zeit der Christianisierung der Steinkult eine bedeutende Rolle spielte, kann man aus den überlieferten - scheinbar widersprüchlichen - damaligen Auffassungen herauslesen: Zur Abschaffung heidnischer Sitten und Gebräuche soll Bonifatius als päpstlicher Legat nicht einmal Kreuze an Brunnen und auf den Feldern geduldet haben; dagegen berichtet ein unbekannter mainzischer Schriftsteller des beginnenden 11. Jh., daß man zur Erinnerung an die Überführung der Leiche des Bonifatius überall da Kreuze errichtet habe, wo der Trauerzug mittags rastete und wo übernachtet wurde.

Falls dieser Bericht stimmt, so handelte es sich wahrscheinlich um Kreuzzeichen, die eingeprägt oder eingeschnitten wurden, nicht aber um am Wege aufgestellte Kreuze aus Holz oder Stein. An einigen Stellen ist in späterer Zeit eine Kapelle erbaut worden, deren patronymische Bezeichnung an das Ereignis erinnert. Selbst wenn diese Auslegung irrig wäre, so hätte man sicherlich für ein solches Ereignis, das mit einem so hoch geachteten Missionar und Bischof unmittelbar verbunden war, nicht jenes so einfache Kreuz mit kunstlosen Einritzungen aufgestellt (vgl. hierzu die kunstvollen irischen Ringkreuze oder jene von Südschweden und Gotland!).

Wie tief noch heute die geprägten Spuren des Bonifatiusweges mit dem Kreuzsetzungsgedanken verwurzelt sind, zeigt die Errichtung eines - noch in neuester Zeit den irischen Ringkreuzen nachempfundenen - Bonifatiusdenkmals westlich von Heldenbergen m der Nähe des sog. Bonifatiushofes und eines ebensolchen Ringkreuzes an der Bonifatiusquelle bei Kalbach.

Die linke Abbildung zeigt das Sühnekreuz von Asterode Das eingeritzte Pflugsech als Berufszeichen des Bauernstandes soll an den Totschlag an einem Bauern erinnern. Die rechte Abbildung zeigt den „Bruderstein" von Raboldshausen. Das Pflugsech stellt hier die Mordwaffe dar, mit der ein Schmied seinen Bruder wegen eines Mädchens erschlug (Fotos: Heinrich Riebeling)

Nachdem die Flurdenkmalforschung, insbesondere die Steinkreuzforschung, heute einen Stand erreicht hat, der nicht nur umfassenden Überblick über gleichartige Denkmäler in Europa gewährt, sondern vor allem auch Meinungs- und Erfahrungsaustausch in sich schließt, war es möglich, in den letzten Jahren durch die Gründung der ,Arbeitsgemeinschaft Denkmalforschung' (AGD) weiträumige Vergleiche anzustellen. Die Zentralkartei der AGD umfaßt allein für den hessischen Bereich ca. 550 bekannte Steinkreuze, Kreuzsteine, Scheibenkreuze, Radkreuze und verwandte Denkmäler. Vom nahen Thüringen sind aus der Landschaft zwischen Eisenach, Nordhausen und Rudolstadt, vornehmlich aus dem Eichsfeld, über 20 Bonifatiuskreuze bekannt, die aber allesamt nichts mit dem Weg zur letzten Ruhestätte zu tun haben, sondern mit Bonifatius-Reminiszenzen anderer Art behaftet wurden, wie auch die einzigartigen Radkreuze in Hann. Münden und bei Varmissen. Selbst im südlichen Westfalen kennt man zwei Denkmäler als Bonifatiuskreuz, wogegen in Hessen diesen Namen lediglich eine Steinsäule trägt und in der Fuldaer Landschaft keines der zahlreichen Steinkreuze als Bonifatiuskreuz oder -stein bezeichnet wird.

Vermutlich haben sich auch bei unserem Steinkreuz an der Elisabethenstraße ältere historische Überlieferungen auf ein neueres Denkmal übertragen, so wie andernorts jüngere Ereignisse auf ein schon vorhanden gewesenes Steinkreuz übergewechselt sind. Hier führte offenbar die Gedankenverbindung zwischen zufälligem Standort des Steinkreuzes und überliefertem Weg des Trauerzuges zu einer Festlegung des (nicht bekannten) ersten Mittagsrastplatzes. Die Zuordnung wird genauso eine Vermutung bleiben wie auch die Annahme, daß z. B. ca. 50 Steinkreuze in Mähren, Böhmen und Sachsen auf die Missionsreise der Slawenapostel Cyrill und Methodius hinweisen sollen.

Ein ähnlicher Vorgang spinnt sich um das sog. Arnokreuz in Klaffenbach (Erzgebirge): an der Stelle, wo der Missionar Bischof Arno (oder auch Aribo) den Märtyrertod erlitt, soll das steinerne Kreuz mit dem eingerillten Schwert aufgerichtet worden sein. Auch hier kann eine Verbindung zwischen dem Denkmal und dem Tod des Bischofs Arno höchstens noch in der Übereinstimmung zwischen der Ortsbeschreibung seines Todes und dem Fundort des Steinkreuzes gesucht werden.

Das im Frankfurter Historischen Museum aufbewahrte Steinkreuz stammt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus dem ausgehenden 15. oder dem beginnenden 16. Jahrhundert. Seine Form und Abmessungen sind keinesfalls ins 8. Jh. (!) zu datieren. Es ist wohl genauso ein Mord-, Sühne- oder auch Erinnerungskreuz wie tausend andere zwischen Kaukasus, Baskenland und Schweden, die einsam und geheimnisumwoben in der Feld- und Waldflur stehen.

Das Beil auf dem Sühnekreuz von Breitau soll an zwei Vettern erinnern, die sich wegen eines Mädchens gegenseitig mit Beilen erschlugen. (Fotos: Heinrich Riebeling)

Die meisten unserer heimischen Sühnekreuze sind schmuck- und inschriftlos, einige tragen gerillte oder reliefartige Werkzeuge oder Waffenbilder, nur wenige sind beschriftet. Das früheste datierte Steinkreuz aus dem Papenbusch in der Nähe von Göttingen weist die Jahreszahl 1260 auf, das älteste datierte Steinkreuz Hessens in der Wiesbadener St.-Mauritius-Kirche die Jahreszahl 1382.

Sühneverträge, in denen das Setzen eines steinernen Kreuzes unter anderen Sühnemaßnahmen verlangt wurde, sind vor allem aus dem 15. und 16. Jh. überliefert. Sicherlich können aus dem gleichen Anlaß auch schon früher Steinkreuze gesetzt worden sein. Wenn man bedenkt, daß Sühneverträge die Aufstellung eines ,steynen crutze' von bestimmten Maßen an einem oft begangenen Ort vorschreiben, so ist erklärlich, daß an solchem Platz der stillen Andacht ein steinernes Kreuz und sogar noch einige weitere Erinnerungsmale anderer Art und Form hinzugestellt worden sind - daher auch die Versammlung verschiedenartiger Flurdenkmäler an der bedeutungsvollen Elisabethenstraße.

Daß Steinkreuze und Kreuzsteine zumeist an früher oft begangenen Altstraßen und Wegkreuzungen standen, erklärt sich aus der Möglichkeit, ein Vielfaches an Gebeten für die Seele des ohne kirchliche Sterbesakramente Dahingeschiedenen verrichten lassen zu können. Der Täter versuchte seinerseits, bei der Errichtung eines Sühnemals so billig wie möglich davonzukommen; daher die oft primitiven und plumpen Formen der Steindenkmäler.

Das Steinkreuz im Historischen Museum war durch Kriegseinwirkung stark beschädigt; inzwischen wurde es restauriert. Die Ritzzeichnungen tragen schon arge Verwitterungsspuren. Im Kreuzungsfeld erkennt man nur noch auf der linken Frontfläche - asymmetrisch angeordnet - skizzenhaft die gerillten Umrisse eines Messers (sie könnten ebenso als grobe Form eines Pflugsechs angesprochen werden) und eines schwer deutbaren Gebildes, daß zwei Kettenglieder darstellen könnte. Wie so oft ist auch hier eine sichere Deutung von alten Werkzeugsymbolen schwierig. Ein Dreschflegel wird in wenigen Jahren ein genauso unbekanntes Ding sein wie irgendein Gerät, das im Mittelalter allgemein gebräuchlich war und uns heute rätselhaft erscheint.

Daß das gerillte Messer ein merowingisches B darstellen soll - dafür gibt es keine Anhaltspunkte, ebensowenig für ein hochgestelltes H und ein als Fortsetzung darunter angebrachtes Q. Gänzlich abwegig ist aber der Gedankensprung, den drei Buchstaben-Deutungen noch eine germanische T-Rune als Ende von quievit anhängen zu wollen! Das pfeilartige Gebilde ist (wie die Verewigung eines Menschen namens E M auf dem linken Kreuzbalken) jüngeren Datums. Diesen Spielereien ist keinerlei wissenschaftliche Bedeutung beizumessen.

Abgesehen davon, daß wohl eine Wunschvorstellung von der sichtbar überlieferten Bonifatiusrast in die Zeichen hineinprojiziert ist, könnte mit ähnlicher Phantasie ein anderer Betrachter etwas anderes herausfabulieren, ,denn das Vergnügen zum Auffinden solcher Zusammenhänge verleitet nur zu leicht zu dem Glauben, sie gefunden zu haben'.

Vergleiche mit einer erheblichen Anzahl ähnlicher Steinkreuze und Kreuzsteine lassen vermuten, daß ein Erschlagener, zu dessen Seelgerät eben auch ein solches steinernes Kreuz gehörte, vielleicht ein Schmied war, der Messer, Sech und damals übliche Gebrauchsgegenstände angefertigt hat. Es ist schwierig, über diese ,Berufszeichen' einen schlüssigen Beweis zu führen - Dutzende anderer ähnlicher Flurdenkmäler ermutigen aber zu dieser Annahme, vgl. hierzu u. a. die Zeichnungen auf dem Steinkreuz Oyas (Schlesien), dem ,Bruderstein' bei Raboldshausen (und den Steinkreuzen in Hausen am Meißner) und Asterode (jetzt Heimatmuseum der Schwalm in Ziegenhain).

Der Verfasser beabsichtigt nicht etwa, eine konstruierte glaubhafte Legende zu zerstören, er will lediglich die Ergebnisse der nunmehr möglichen vergleichenden Forschung an einem Objekt aufzeigen, das zwar einen ehrwürdigen Namen trägt, diesen aber erst vor vier Jahrzehnten nach jahrhundertelangem unbekannten Dasein ,verliehen' bekommen hat.

Wenn es auch undenkbar ist, daß das steinerne Kreuz als bemerkenswertes Indiz der Totenrast einige Menschenalter an der bekannten Elisabethenstraße namenlos gestanden hat, so vermittelt es doch durch seinen früheren Standort bis in unsere Zeit das Gedenken an den Zug zur letzten Ruhe des Apostels der Deutschen - und so mag es denn auch weiterhin mit Bonifatius verwoben bleiben..."

Heinrich Riebeling, in:
Die Legende vom Bonifatiuskreuz in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Heimatkunde
Oberursel (Taunus) e.V. 1974, Heft 18, S. 74/7ff.