Das Bonifatiuskreuz - eine Legende?
Adalbert Vollert

In: Sossenheim. Aus der Geschichte eines Frankfurter Stadtteils. Herausgegeben von der Frankfurter Sparkasse von 1822. S. 91-95.

„Was sich am Morgen des 17. November 1933, einem nebligen Herbsttag, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, auf der alten römischen Heerstraße an der Sossenheim/Eschborner Gemarkungsgrenze abspielte, sollte Jahrzehnte später die Gemüter der Anliegergemeinden sehr heftig bewegen. An jenem Vormittag ließ die Frankfurter Stadtverwaltung - Sossenheim war fünf Jahre zuvor eingemeindet worden - 200 Meter östlich der Wegkreuzung Sossenheim-Eschborn eine Flurdenkmalgruppe niederlegen und in das Kunsthistorische Museum bringen.

Eile tat not, standen doch die drei Steinmale auf der Trasse der im Bau befindlichen Autoumgehungsstraße Frankfurt-Wiesbaden. Die Eschborner, gewissermaßen Augenzeugen der Bergungsarbeiten auf ihrem Gemarkungsgebiet, erhoben keinerlei Anspruch. Fast ein halbes Jahrhundert danach erinnert man sich in Eschborn an die niedergelegten Flurdenkmäler, vor allem an das mittlere Hochkreuz. Dieses markante Steinmal stand nun als ,Bonifatiuskreuz' im Mittelpunkt lokaler Berichterstattung. Die Eschborner reklamierten zu Recht ihr Eigentum, und so ist das Hochkreuz im September 1979 ,heimgekehrt'.

Frankfurt dürfte es nicht allzu schwer gefallen sein, dem Drängen der Nachbargemeinde nachzugeben, ist doch die Namensverbindung des Hochkreuzes mit dem christlichen Missionar vermutlich eine ,fromme Legende', die sich seit 1933 um dieses Denkmal rankt. Auf der Abbildung aus dem Jahre 1925 (siehe Seite 29) ist der Standort der drei Steinmale am Rand eines einfachen Feldweges zu erkennen, zu dem die römische Heerstraße in der Neuzeit herabgesunken war.

Die bildstockartige Säule aus Sandstein im Vordergrund ragt etwa 140 cm aus dem Boden und besitzt eine Nische für eine Heiligenfigur oder eine Leuchte. Außer der erkennbaren Jahreszahl ,1513' war in den 20er Jahren noch eine teilweise zerstörte, vermutlich gotische Inschrift sichtbar, die eine Widmung enthalten haben könnte. Vielleicht verharrten die Wallfahrer, die zum Grabe der hl. Elisabeth nach Marburg pilgerten, hier zu einer kurzen Anbetungsrast.

Neben der Lichtsäule steht das Hochkreuz. Es ragt etwa 125 cm aus dem Erdreich, seine Basaltoberfläche ist nicht sehr sorgfältig bearbeitet, die Kreuzform nur unvollkommen ausgeführt. Sein Alter läßt sich schwer abschätzen, muß aber über 600 Jahre betragen, da es 1339 in einem Güterverzeichnis des Frankfurter Reichsschultheißen heißt: ,Bei den Cruzen gen Eschborn'. Dreihundert Jahre später steht in dem Sossenheimer Ackerbuch von 1629: ,Volget das Feldt gen Eschborn. Item ein Acker. Zeugt gen den Eschborner Weg zu den Creutzen..., die Forch gen der Straßen.'

Der Basaltstumpf am linken Bildrand ist etwa 70 cm hoch und vierkantig. Er könnte der Schaft eines abgebrochenen Steinkreuzes sein, möglicherweise auch ein Abweiser, der das Hochkreuz vor dem Fahrverkehr schützen sollte.

Das angrenzende Gewann auf der Sossenheimer Seite hieß vor der Flurbereinigung ,Hinterm Kreuz', sicher ein Hinweis auf das dominierende Hochkreuz.

Es gibt bis heute keine Belege für die Benennung dieser Flurdenkmäler. Auf einer Karte erscheinen die Steinmale erstmals 1801 (Militärische Situationskarte von L. H. Haas), allerdings als einzelnes Kreuz ohne jegliche Benennung (siehe Seite 24). Es gibt auch keinen urkundlichen Hinweis auf die Bezeichnung ,Bonifatiuskreuz'.

Historisch nachgewiesen ist jedoch der Weg, den der Leichenzug des in Friesland erschlagenen Bischofs 754 genommen hat. Er führte - von Mainz-Kastel kommend - auf der alten Römerstraße an Sossenheim und Eschborn vorbei zur Grablege nach Fulda. Denkbar ist, daß auf einer solch beschwerlichen Reise in kürzeren Abständen gerastet werden mußte.

Gleichwohl bleibt offen, weshalb ausgerechnet an diesem wenig exponierten Platz zur Erinnerung an einen kurzen Halt ein derart aufwendiges Steinkreuz errichtet wurde, ist doch auf der gesamten Wegstrecke und im Fuldaer Land selbst kein einziges ,Bonifatiuskreuz' nachgewiesen.

Auch erscheint es Fachleuten heute sehr gewagt, die Ritzzeichnungen auf der Rückseite des Hochkreuzes als lateinisch-merowingische Buchstaben H B Q (,Hic Bonifatius quievit' - Hier ruhte Bonifatius) zu deuten, zumal die ungelenken, offenbar mit laienhaften Werkzeugen ausgeführten Einritzungen sehr ungeordnet in der Mitte des Kreuzungsfeldes stehen, wo sich doch für ein Schriftbild die gesamte Breite des Kreuzbalkens angeboten hätte. Welch frommem Betrachter dienten übrigens damals Schriftzeichen, zu einer Zeit, in der kaum jemand lesen konnte?

Vielleicht kann ein naheliegender Sachverhalt eine zutreffendere Erklärung geben. Einige hundert Meter westlich des Hochkreuzes fließt der Sulzbach. In seiner Talsenke tagte - 1309 erst mals erwähnt - jahrhundertelang das Hochgericht ,Diefenwegen'.

Das Steinkreuz von Dornstetten mit einer Nische zur Aufnahme einer Pyxis und einer eingeritzten Form für die Ziegelherstellung. Nach Professor Azzola wurde das Steinmal zum Gedenken für einen Ziegler, der eines gewaltsamen Todes starb, im 15. Jahrhundert gesetzt. (Foto: Prof Dr. Friedrich Karl Azzola)

Hier urteilte man unter freiem Himmel über die Vergehen und Verbrechen der umliegenden Ortsbewohner. Bei Mord und Totschlag war es nicht selten, dem Schuldigen in einem Sühnevertrag aufzuerlegen, ein ,steynen crutze zu setzen', damit der Nachwelt diese scheußliche Tat in Erinnerung bleibt. Die Hinterbliebenen des Opfers suchten wohl für das ,Sühnekreuz' eine Stelle mit starkem Publikumsverkehr, während die andere Seite bei der Ausführung des Steinmals möglichst billig davonkommen wollte. Standort und Gestaltung des Hochkreuzes sprechen dafür.

Auch die Ritzzeichnungen lassen sich mit einem ,Sühnekreuz' in Verbindung bringen. Die linke Einritzung könnte ein Messer oder ein Pflugsech darstellen, die mittlere ein Kettenglied und das ,q' darunter möglicherweise die Form der Ziegler für die Herstellung der Ziegelplatten.

Rechts ist ein Pfeil mit nach oben führender Spitze zu erkennen. Alle diese Gegenstände können mit dem Urteilsspruch oder auch mit dem Beruf des Getöteten - vielleicht ein Schmied oder ein Ziegler - zusammenhängen.

Heute ist nur noch eines mit Sicherheit nachzuweisen: der Standort des Flurdenkmals, ,an der zile' (an der Zeil = die gerade alte Römerstraße) auf der Eschborner Flur ,An den 3 Steinen'. Strittig wird wohl immer bleiben, ob mit dem Hochkreuz tatsächlich die Totenrast des Bonifatius gekennzeichnet wurde, möglicherweise erst einige Jahrhunderte später.

So mag das Steinmal für beide Vermutungen herhalten: einmal als ,Bonifatiuskreuz' zum Gedenken an den Leichenzug des toten Bischofs durch unsere Heimat und zum anderen als ,Sühnekreuz' zur Erinnerung an die Gerichtsstätte in der Sulzbachsenke, wo man so manchem Vorfahr ein ,steinernes' Opfer abverlangte."

Hansjörg Ziegler:
In Heinrich Riebelings Handbuch „Steinkreuze und Kreuzsteine in Hessen" ist unser Steinkreuz zwischen anderen „Mord-, Sühne- und Erinnerungskreuzen" unter der Ordnungsnummer „5817/3 Frankfurt am Main" zu finden.

„5817/3: Frankfurt a. M. - TK 5817 R 69060 H 54810 (ehemaliger Standort) - Steinkreuz
M.: ausgegraben 184/52/18 - Basalt
St.: Heute im Historischen Museum in Frankfurt am Main

Und noch einmal:
Heinrich Riebeling
In:
Steinkreuze und Kreuzsteine in Hessen. S. 158

Zwischen Eschborn und Sossenheim an der alten Elisabethenstraße (heute Autobahn Wiesbaden-Frankfurt) stand eine Flurdenkmalgruppe: eine bildstockartige Lichtsäule aus Sandstein, ein Steinkreuz und ein vierkantiger Steinstumpf aus Basalt (vielleicht ein Steinkreuzschaft?). Die Steinmale wurden bereits 1923 zur Erhaltung gesichert. Das Steinkreuz wird seit 1933 (vorher nie!) als Bonifatiuskreuz bezeichnet. Auf der Vorderseite sind drei Darstellungen eingeritzt: ein Messer (Pflugsech?) und 3 abgerundete Rechtecke, die wie Kettenglieder aussehen. Diese Einrillungen wurden als merowingische Buchstaben H B Q gedeutet (übersetzt: hie Bonifatius quievit), die auf eine Raststelle des Leichenzuges Bonifatius' auf dem Wege von Hochheim am Main nach seiner Grablege in Fulda hinweisen sollen. Der Verfasser hat sich mit diesem ,Bonifatiuskreuz' und dessen Legende ausführlich auseinandergesetzt (siehe Seite 84 dieser Dokumentation).

Nach einem Güterverzeichnis des Reichsschultheißen von Sachsenhausen (Frankfurt!) werden die Kreuze gen Eschborn (also die Gruppe!) bereits 1339 genannt."